Hardwin Jungclaussen
Dr.-Ing. habil.

Ausgewählte Arbeiten zu den Themenkreisen

Inhalt

Autobiografie Frei in drei Diktaturen

Trilogie Gespräche zu Dritt
   Teil 1: Wie erkennen wir die Welt?
   Teil 2: Wie handeln wir?
   Teil 3:Wie leben wir zusammen?

Buch Kausale Informatik

Aufsätze und Vorträge

Impressum


Frei in drei Diktaturen
Wie ich mein Leben erlebte und wie ich mein Glück fand

Die Autobiografie ist u.a. bei Buchhandel.de, amazon.de oder beim Verlag unter info@trafoberlin.de erhältlich.

Bibliographische Angaben

Jungclaussen, Hardwin: Frei in drei Diktaturen : wie ich mein Leben erlebte und wie ich mein Glück fand.
Berlin: trafo Verlagsgruppe Dr. Wolfgang Weist, 2015. 213 Seiten
ISBN 978-3-86465-050-5, 18,80 EUR
Titel-Infos: http://www.trafoberlin.de/978-3-86465-050-5.html

Inhalt

Vorwort: Was den Leser erwartet
1. Behütete Kindheit. Hamburg und Münster 1923–1927
2. Wie ich zu mir selbst wurde. Jugendjahre in Kiel 1937–1942
        • Wie ich aufwachte
    • Wie mein Vater Hitler erlebte
    • Wie ich die Hitlerjugend erlebte
    • Hans-Gerhard und Werner Creutzfeldt
    • Internat und Privatunterricht
3. Fünf Lebensjahre eines optimistischen Fatalisten. Krieg und Gefangenschaft 1942–1947
    • Wie ich mir im Voruas das Leben rettete
    • Staraja Russa
    • Wie ich mich von Hitler löste und wie ich aufhörte, Soldat zu sein     • Domodjedowo
    • Wie mein Gemüt auf das Gefangenendasein reagierte
    • Worüber ich nachgedacht habe
4. Sechs Jahre im Paradies 1947–1953. Laborant am Schwarzen Meer und der große Glücksfall
    • Drei unglaubliche Tage
    • Gustav Hertz
    • „Inospezialisti“
    • Schönes und Schweres im Paradies
    • Ein streng geheimes Ereignis von größter Bedeutung
    • Quarantäne
    • Zwei „Zettel zum Glück“
    • Mit Schintlmeister im Zentralkaukasus
5. Physikstudium. Rostow am Don und Lomonossow-Universität Moskau 1953–1958
    • Rostow am Don
    • Lomonossow-Universität Moskau
    • Lew Landau
    • Diplomarbeit
    • Zu Gast bei Episkop Sergij
    • Befreiung von Zweifeln
    • Werner Hartmann
    • Zum Standesamt
    • Dmitri Schostakowitsch
6. Erfolgreiches wissenschaftliches Arbeiten. Als Kernphysiker in Dresden und Dubna 1958–1968
    • Nestbau in Bühlau
    • Im Institut von Schintlmeister
    • Erinnerung an den Rückzug 1944
    • Schritte in die Ehe. Suche nach meinem Weltbild
    • Im Institut von Prof. Fljorow
7. Erfolg und Misserfolg als Hochschullehrer. Informatikdozent an der TU Dresden 1969–1988
    • Illusionen und ihr Ende
    • Flucht und Rettung
    • Das Operatorennetz-Projekt
    • Das LEDA-Projekt
8. Schreiben im Elfenbeinturm und Experimentieren in Wien 1980–2013
    • Simulation neuronaler Netze
9. Rückblicke
    • Wie ich Gustav Hertz auf Hiddensee erlebte
    • Meine Mutter
    • Wie ich die russische Kultur erlebte
10. Antrieb und Ergebnisse meines Nachdenkens
    • Die Wurzeln meines Glücks und neuer Freiheit
    • Was ich glaube verstanden zu haben
11. Was uns Not tut
    • Was Europa Not tut
    • Was der Welt Not tut
Dank
Literatur
Bildnachweis

Vorwort

Was den Leser erwartet

Den Leser erwartet der Lebensbericht eines Menschen, der alles Wahrgenommene verstehen will - die Welt, die Menschen, sich selbst - und der meint, einiges auch verstanden zu haben. Meine Mitmen-schen habe ich allerdings oft nicht verstanden, was zu Kontaktschwierigkeiten führte, die ich damit erkläre, dass meiner Veranlagung ein Tropfen Autismus beigemischt ist. Der hat aber auch sein Gutes; er hält die Welt auf Distanz und sichert mir ein Stück Freiheit.

Wie ein Fremdenführer seinen Touris-ten Sehenswertes aus fremden Ländern zeigt, so werde ich meinen Lesern Bemerkenswertes aus mei-nem Leben zeigen, indem ich den Film, der sich in meinem autobiographischen Gedächtnis befindet, vor ihren Augen ablaufen lasse. Es beginnt nun also ein Dokumentarfilm. Er berichtet und erläutert Ereignisse aus neun Jahrzehnten. Der Film beginnt in der Weimarer Republik. Wann und wo der Film spielt, ist den Kapitelüberschriften zu entnehmen. Von den 90 Jahren spielen 57 Jahre in Diktaturen, davon 20 Jahre in der Sowjetunion.

Sprecher der Dokumentation ist
                      Hardwin Jungclaussen


Trilogie: Gespräche zu Dritt

Die drei Teile der Trilogie können bei Buchhandel.de, amazon.de oder beim Verlag unter info@trafoberlin.de erworben werden.

Teil 1: Wie erkennen wir die Welt?
Disput über eine neuronale Erkenntnistheorie.

BuchTitel

Bibliographische Angaben

Jungclaussen, Hardwin: Gespräche zu Dritt. Teil I: Wie erkennen wir die Welt? Disput über eine neuronale Erkenntnistheorie.
Berlin: trafo Verlagsgruppe Dr. Wolfgang Weist, 2009. 372 Seiten
ISBN 978-3-89626-918-8, 29,80 EUR
Titel-Infos: http://www.trafoberlin.de/978-3-89626-918-8.html

Inhalt

Vorwort
1    Worüber Graber, Bauer und Weiser disputieren wollen
2    Mikrostruktur der grauen Substanz des Gehirns und Anpassung
3    Wie kommt Wissen in den Computer? Intelligenz. Information
4    Wie produziert der Computer Wissen?
5    Kant und das Perzeptron
6    Hopfieldnetze. Kants Kategorien
7    Evolutionäre Erkenntnistheorie
8    Das neuronale Korrelat eines Bewusstseinsinhalts
9    Das neuronale Korrelat des Assoziierens. Struktur des Cortex
10  Komponierungsmechanismen
11  Neuronale Korrelate des Verallgemeinerns und der hegelschen Dialektik
12  Bindungsproblem. Zehn Arbeitshypothesen von Christof Koch
13  Das neuronale Korrelat des logischen Denkens
14  Denken als darwinistischer Prozess
15  Der hegelsche "Geist" und sein neuronales Korrelat
16  Turingtest. Zusammenfassung der bisherigen Gespräche
Glossar
Literatur

Buchbesprechung auf dem Buchumschlag

Wie sind Gedanken und Erinnerungen im Gehirn codiert? Existieren zu mentalen Phänomenen wie Denken oder Erkennen entsprechende neuronale Prozesse? Wie könnten sie im Detail ablaufen?

Wie verbinden sich unzählige getrennte Wahrnehmungen zu einem geschlossenen Bild von der Welt? Wie verbinden sich zahllose Messwerte zu einer geschlossenen Theorie?

Haben Kants Kategorien und Hegels Dialektik neuronale Entsprechungen?

Was ist Intelligenz und was ist Ichbewusstsein aus neuronaler Sicht?

In der fiktiven Diskussion dieser realen und auf der Agenda wissenschaftlicher Forschung weit vorn stehenden Fragen lässt uns Hardwin Jungclaussen auf inspirierende Weise teilhaben. Die Akteure seines Disputes – ein Philosoph, ein Physiker und ein Informatiker – konstatieren den Stand der Forschung in seiner ganzen Komplexität und entwickeln manchen überraschenden, in die Zukunft weisenden, Gedanken. Ein Buch nicht nur für Fachleute.

In Band II werden die Protagonisten Graber, Weiser und Bauer ihre Gespräche zu Dritt zum Thema "Wie handeln wir – über menschliches Verhalten und seine neuronalen Grundlagen" – fortsetzen!

Bleiben Sie neugierig!

Aus dem Vorwort zu Teil I

In den Gesprächen dieses Buches geht es um die Frage, ob die kognitiven Fähigkeiten des Menschen aus der Struktur und Funktion des Gehirns ohne Rückgriff auf das Bewusstsein erklärt werden können, mit anderen Worten, ob es möglich ist, die Herausbildung einer inneren Repräsentation der Welt, eines "inneren Modells" der Welt allein auf der Grundlage von Anregungsprozessen und Strukturbildungen in der grauen Substanz des Gehirns zu erklärten. Nach meiner persönlichen Überzeugung ist das möglich. Meine diesbezüglichen Überlegungen habe ich drei Gesprächspartnern in den Mund gelegt, von denen jeder seine Sicht in den Disput einbringt, eine philosophische, eine biologische und eine technische Sicht.

Da die neuronalen Strukturen und Prozesse, die das Wissen und Denken eines Menschen tragen, d.h. codieren, der gegenwärtigen exakten Naturwissenschaft noch weitgehend verschlossen sind, ist die Suche nach einer Antwort auf Hypothesen und Spekulationen angewiesen, die aber den Ergebnissen der Hirnforschung nicht widersprechen dürfen. Alle Überlegungen gehen davon aus, dass mentalen Prozessen neuronale Prozesse entsprechen. Diese sogenannte neuromentale Korrelation gilt heute als experimentell nachgewiesen. Die beiden wichtigsten Hypothesen, die ich in dem Buch aufstelle, sind die Attrakthypothese und die Konfluenzhypothese. Die Attrakthypothese nimmt an, dass der neuronale Code von Bewusstseinsinhalten Attrakte sind. Als Attrakt bezeichne ich einen dynamisch stabilen neuronalen Anregungszustand. Solche Zustände werden in der Literatur häufig Neuronenkoalitionen genannt. Ihre Existenz wird seit vielen Jahren angenommen, theoretisch untersucht und experimentell gesucht. Die Konfluenzhypothese nimmt an, dass zwei Attrakte, die miteinander wechselwirken, sich einander annähern und evtl. zu einem einzigen Attrakt zusammenfließen, konfluieren können, wie ich es nenne. Auf dieser Grundlage werden neuronale Mechanismen des Assoziierens und des logischen Denkens ansatzweise entwickelt. Zuvor wird angedeutet, wie der Computer assoziiert, induziert und deduziert.

Die Frage im Buchtitel "Wie erkennen wir die Welt?" wird am Ende des Buches folgendermaßen beantwortet: "Wir erkennen die Welt, indem unser Bewusstsein stabile Anregungen in der grauen Substanz unseres Gehirns, die sich infolge externer Reize aus der Welt herausgebildet haben, als Aussagen über die Welt interpretiert." Diese Antwort ist die Quintessenz meiner in dem Buch entworfenen "Neuronalen Erkenntnistheorie", wobei es sich freilich nur um die Idee einer Theorie handeln kann. Die Rolle des Bewusstseins wird auf die Rolle eines Interpretierers eingeschränkt, der das innere Modell der Welt "ausdeutet", d.h. seine Bedeutung bewusst macht, der aber an der Herausbildung des inneren Modells keinen Anteil hat.

Die Überlegungen, die zu der zitierten Antwort führen, sind in den Kapiteln 8 bis 13 und 16 in Form von Gesprächen zwischen den drei Partnern dargelegt, die alle drei nach Antworten suchen. Dabei lassen sie sich von den Erkenntnissen der Hirnforschung, der Psychologie und der Philosophie, von introspektiven Einsichten sowie von Ideen und Methoden der Informatik, insbesondere der künstlichen Intelligenz und der Computersimulation neuronaler Prozesse inspirieren und oft auch leiten. Die zitierte Antwort auf die Frage, wie wir die Welt erkennen, ist meine ganz persönliche Antwort. Sie lässt sich gegenwärtig nicht experimentell verifizieren. Ich erwarte, dass meine Antwort und meine Hypothesen in nicht allzu ferner Zukunft entweder verifiziert oder falsifiziert werden. Die Konfluenzhypothese lässt sich durch Computersimulation schon heute verifizieren (siehe die Fußnote 47).

Ich fordere meine Leser auf, beim Lesen mitzudenken und sich eine eigene Meinung zu bilden. Das dafür notwendige Wissen wird in den Kapiteln 2 bis 6, 9 und 10 dargelegt und zwar in Form von Gesprächen vorwiegend zwischen jeweils einem Fragenden und einem Antwortenden. Das dargebotene Wissen muss oberflächlich bleiben, um den Rahmen des Buches nicht zu sprengen. Denjenigen Lesern, die ihr Wissen in der einen oder anderen Richtung vertiefen wollen, können u. a. die Bücher "Kausale Informatik", "Maschinelle Intelligenz" und "Neurowissenschaften" empfohlen werden.

Jedes Gespräch beginnt mit einer Zusammenfassung des vorangegangenen Gesprächs und einem "Referat" zum Thema des aktuellen Gesprächs. Die Referate enthalten viele kursiv gedruckte Zitate. Die Zitate bringen Gedanken und Erkenntnisse Außenstehender ein, die für das aktuelle Thema von Bedeutung sind. Im Verlaufe der Gespräche wird auf Analogien und Unterschiede zwischen der neuronalen Erkenntnistheorie und den Erkenntnistheorien Kants und Hegels sowie der Evolutionären Erkenntnistheorie hingewiesen. Einige wesentliche Vorstellungen und Begriffe der neuronalen Erkenntnistheorie werden mit W. H. Calvins Theorie des Entstehens von Gedanken und mit Christof Kochs Arbeitshypothesen zum Leib-Seele-Problem verglichen. Außer den Zitaten sind besonders wichtige Aussagen der Gesprächspartner und evtl. auch zu betonende Wörter kursiv gedruckt.

Ich möchte mit diesem Buch Denkanstöße geben, Diskussionen, evtl. auch Widerspruch auslösen und zu Computersimulationen anregen. Ich war bestrebt, die Gespräche so zu gestalten, dass die Grundideen der anvisierten "Theorie" deutlich zutage treten und nicht durch Details verschüttet werden. Wenn ein Leser in der Darstellung Ungenauigkeiten auf seinem Fachgebiet entdeckt, können diese nur mir angelastet werden und meinen, vielleicht nicht immer gerechtfertigten, Konzessionen an Verständlichkeit und Kürze.

Leseproben aus Teil I

Seiten 26-27

Weiser Da sitzen wir nun an unserem Stammtisch und wissen nicht wie anfangen.

Graber Dein Name ist Weiser. Also musst du die entsprechenden Anweisungen geben.

Weiser Dann weise ich ein für allemal Folgendes an. Der jeweilige Referent beginnt ohne jede Vorrede sein Referat. Wenn ihr einverstanden seid, hat Graber das Wort.

Graber Zunächst die Zusammenfassung der letzten Sitzung. Wir haben eine Liste von Themen erstellt und uns auf die Reihenfolge geeinigt, in der die Themen bearbeitet werden sollen: 1. Neuronale Erkenntnistheorie, 2. Wissenschaft und Religion, 3. Wirtschaft und Politik. Beim ersten Thema geht es darum, wie wir die Welt erkennen, bei den restlichen Themen darum, wie wir handeln. Die Reihenfolge sollte aber nicht zur Zwangsjacke ausarten. Themenfremde Einwürfe sollten erlaubt sein, eventuell sogar längere Abschweifungen vom vorgegebenen roten Faden. Wir hatten uns geeinigt, dass Einwürfe vom gerade Redenden zurückgestellt werden dürfen. Und wir waren überein gekommen, die Wörter Unsinn und Illusion nicht zu verwenden.

In unserer Vorbesprechung waren wir auf drei Fragen gestoßen: 1. Was ist Bewusstsein? 2. Was bewegt die menschliche Gesellschaft stärker, der Wunsch nach Sicherheit oder der Wunsch nach Freiheit? 3. Was ist für das Zusammenleben und Überleben der Menschheit wichtiger, naturwissenschaftliches Wissen oder religiöses Wissen? Die erste Frage beantworte ich mit "Ich weiß es nicht" und werde das Bewusstsein ausschließen. Auch die zweite und die dritte Frage werde ich in meinem Referat nicht berühren. Bei der dritten Frage habe ich bei der Vorbereitung der Zusammenfassung bemerkt, dass unsere Definition des Wissens eines Menschen die Grenze zwischen Wissenschaft und Religion verwischt, denn sie schließt sowohl wissenschaftliches als auch religiöses Wissen ein. Es gibt also wissenschaftliche und religiöse Erkenntnisgewinnung und dementsprechend zwei Erkenntnistheorien.

Weiser Ich bin nicht der Ansicht, dass es zwei Erkenntnistheorien gibt. Ich bin mir aber sicher, dass wir früher oder später erkennen werden, dass eine rein wissenschaftliche Erkenntnistheorie nicht ausreicht. Ich halte es jedoch für verfrüht, darüber jetzt zu disputieren. Etwas anderes hätte ich dagegen gerne sofort geklärt. Ich verstehe überhaupt nicht, dass Graber vorhat, das Bewusstsein auszuschließen. Erkenntnisgewinnung ist an das menschliche Bewusstsein gebunden. Wir können es also gar nicht ausklammern.

Graber Dieser Schluss liegt nahe, wenn man unter Erkenntnis das Ergebnis bewusster Verstandestätigkeit versteht. In einem sehr allgemeinen Sinne kann man unter Erkenntnis aber auch das Ergebnis der Anpassung an die Umwelt verstehen. Tatsächlich wird es sich bei meinen Darlegungen um eine Anpassungstheorie handeln.

Weiser Was hat das mit Erkenntnistheorie zu tun?

Bauer Ich bin mit Weiser einverstanden, dass es zunächst unnötig ist, zwischen wissenschaftlicher und religiöser Wissensgewinnung zu unterscheiden. Ich habe eine andere Frage an Graber, die er zuerst beantworten sollte. Was verstehst du unter Anpassung?

Graber Ich hoffe, dass sich im Laufe unseres Dialogs die Antworten auf eure Fragen von selbst ergeben werden. Ich meine, dass Erkenntnis und Erkenntnisgewinnung nicht an Bewusstsein bebunden ist, verstehe aber, dass es nahe liegt, mit Erkenntnis Bewusstsein zu assoziieren. Um das zu verhindern, werde ich statt von Erkenntnis einfach von Wissen sprechen.

Bauer Du willst uns also eine "Wissenstheorie" vortragen, genauer eine Theorie der Wissensgewinnung oder, noch genauer, eine Theorie, die erklärt, wie Wissen ins Gehirn kommt. Eine solche Theorie müsste dann die neuronalen Mechanismen liefern, die der Wissensgewinnung zugrunde liegen. Auf diese Zielstellung hatten wir uns geeinigt, und in diese Richtung gehen meine Erwartungen bezüglich deines Referats.

Graber Deine Erwartungen gehen zwar in die richtige Richtung, sie sind aber erheblich überspannt, falls du eine mathematische Theorie erwartest, aus der sich die neuronalen Mechanismen der Gewinnung von Wissen ergeben.

Weiser Ich für meine Person erwarte keine mathematische Theorie, ich wünsche sie auch gar nicht. Mir genügt eine plausible Theorie. Aber auch die wird es nicht geben angesichts der Tatsache, dass das Bewusstsein überhaupt keiner theoretischen Behandlung zugänglich ist.

Seiten 162-164:

Weiser Die Frage ist, wie Informationen im Gehirn codiert werden.

Bauer Statt Bewusstseinsinhalt ... sagst du Information ...Wenn du dir dieser Laxheit bewusst bist, sei sie dir verziehen.

Weiser Dann bleibe ich bei Information ... Da die Neuronen als Codierungssubstrat wegfallen, weil sie keine stabilen Anregungszustände besitzen, sehe ich eigentlich nur die Möglichkeit der chemischen Codierung. Meine Antwort lautet demzufolge: Wahrscheinlich sind Informationen im Gehirn ähnlich codiert, wie die genetische Information in der DNA, also in Form molekularer Strukturen.

Graber Deine Idee betrifft die molekulare Speicherung von Bedeutungen und ist für bestimmte biologische Speichermechanismen auch zutreffend, wie beispielsweise eben im Falle des genetischen Codes. Ich hatte aber nach dem neuronalen Korrelat gefragt.

Weiser Wo liegt da der prinzipielle Unterschied?

Graber Im Zeitverhalten. Überlege bitte noch einmal, ob molekulare Strukturen als Codierungssubstrat in Frage kommen und berücksichtige, dass ein Bewusstseinsinhalt und sein neuronales Korrelat die gleichen zeitlichen Eigenschaften haben müssen, denn das Wort Korrelation muss sich auch auf sie beziehen, d.h. auf die gleichzeitige Existenz eines Bewusstseinsinhaltes und seines neuronalen Korrelats.

Weiser Ein Bewusstseinsinhalt erscheint und verschwindet momentan, und seine Lebensdauer ist sehr kurz. Ich glaube nicht, dass chemische Prozesse so schnell ablaufen, wie meine Idee von der chemischen Codierung verlangen würde. Offensichtlich ist sie falsch.

Graber Das ist eine wichtige Einsicht. Sie wird für unsere weiteren Überlegungen grundlegend sein. Nun bin ich auf Bauers Antwort gespannt.

Bauer Ich habe zuerst den gleichen Fehler wie Weiser gemacht und Codieren mit Speichern verwechselt.

Weiser Wieso ist da ein Unterschied. Beides erfolgt mittels codierender Zustände.

Bauer Das ist richtig. Aber das Wort Speichern impliziert nach meinem Verständnis ein Ablegen für späteren Gebrauch. Wenn aber von einem Bewusstseinsinhalt die Rede ist, also von einem Phänomen, das "gegenwärtig" ist, das im gegenwärtigen Moment existiert, dann hat "Speichern" nach meinem Verständnis keinen Sinn. Da ich zunächst aber fälschlicherweise an ein Ablegen für spätere Verwendung gedacht hatte, kam mir der Gedanke, dass die Synapsengewichte als codierende Zustände in Frage kämen. Denn von Graber wissen wir, dass Anpassung, d.h. Speichern von Erfahrung, in der Änderung von Synapsengewichten besteht.

Graber Genauer handelt es sich dabei um strukturelle Anpassung.

Bauer Richtig. Als ich mir die Fragestellung noch einmal genau ansah, stellte ich fest, dass nach Abspeicherung für späteren Gebrauch gar nicht gefragt ist. Ich überlegte, ob es irgendwelche nichtstrukturelle und trotzdem stabile Zustände geben könnte. Dabei kam mir allerhand in den Sinn. Zuerst dachte ich an den Flipflop, den elektronischen Einbitspeicher, und an das Hopfieldnetz. In beiden gibt es nichtstrukturelle stabile Zustände. Aber beide kommen nicht in Frage, da sie nicht wie das Gehirn mit Impulsen arbeiten. Dann aber erinnerte ich mich daran, dass auch in Impulsneuronennetzen stabile Anregungszustände beobachtet worden sind. Das war mir bekannt. Insofern war ich Weiser gegenüber erheblich im Vorteil.

Weiser In einem früheren Gespräch hattest du bereits Impulsneuronennetze erwähnt und gesagt, dass sie aus künstlichen Neuronen aufgebaut sind, die, in Analogie zu natürlichen Neuronen, Impulse generieren. Von stabilen Anregungszuständen in solchen Netzen war aber nicht die Rede gewesen.

Bauer Es handelt sich um eine besondere Art von Stabilität, die man dynamisch nennen könnte im Gegensatz zur statischen Stabilität von Anregungszuständen in Binärneuronennetzen. Sie sind in künstlichen Impulsneuronennetzen möglich. Warum sollten sie dann nicht auch in natürlichen neuronalen Netzen möglich sein? Dieser Gedanke brachte mich auf die Idee, dass derartige Anregungszustände in der grauen Materie die neuronalen Korrelate, also die Codes von Bewusstseinsinhalten sein könnten.

Graber Diese Antwort wollte ich hören.

Weiser Gratulation an Bauer. Aber der Übergang vom Computer über binäre Netze zu Impulsnetzen und weiter zum Gehirn ist für mich nicht so ohne Weiteres nachvollziehbar. Aus Grabers Darlegungen über das Gehirn und Bauers Darlegungen über den Computer habe ich mir Folgendes gemerkt: Das Gehirn ist ein Netz aus Neuronen und ein Computer ein Netz aus booleschen Operatoren. Wären die Neuronen boolesche Operatoren, könnte ich Bauers Gedankensprünge vielleicht nachvollziehen.

Seiten 173 (letzter Satz)-175

Weiser ... worauf beruht der Unterschied zwischen Bewusstseinsinhalten und Gedächtnisinhalten?

Bauer Erlaubt mir eine naheliegende und oft strapazierte Gehirn-Computer-Analogie. Nach ihr entsprechen Gedächtnisinhalte Bitketten, die auf der Festplatte oder in einem anderen Hintergrundspeicher abgespeichert sind, und Bewusstseinsinhalte entsprechen Bitketten, mit denen der Prozessor unmittelbar arbeitet. Damit er das kann, müssen die erforderlichen Bitketten vorher aus dem Speicher in ein Prozessorregister geholt werden, man sagt auch, sie müssen aktiviert werden. Auch im Falle eines Attraktors hatten wir von Aktivieren gesprochen und damit die Überführung des Attraktors in einen stabilen Anregungszustand bezeichnet. Die Analogie legt nahe, in der Netzstruktur den Gedächtnisinhalt und in der Anregung den Bewusstseinsinhalt zu sehen.

Graber Damit hat mir Bauer eine Hypothese aus dem Mund genommen, die ich zur Diskussion stellen wollte, nämlich: Die neuronalen Korrelate von Gedächtnisinhalten, genauer von deklarativen Gedächtnisinhalten, sind Attraktorstrukturen, also letzten Endes Synapsengewichte. Die neuronalen Korrelate von Bewusstseinsinhalten sind Attraktoranregungen.

Weiser Man muss also zwischen der Struktur und der Anregung eines Attraktors unterscheiden, was wir bisher nicht getan haben.

Graber In der Systemtheorie und in der Chaostheorie, die sich mit Attraktoren beschäftigen, wird dieser Unterschied nicht gemacht. Der Attraktor ist ein abstrakter, mathematischer Begriff. Er entspricht eher der Attraktoranregung, denn der materielle Träger eines Attraktors ist nicht Gegenstand der mathematischen Beschreibung.

Weiser Deine Definitionen klingen plausibel. Aber sind dir keine prägnanteren Bezeichnungen eingefallen?

Graber Beim privaten Nachdenken nenne ich die Struktur Attraktor und die Anregung Attraktion.

Bauer Bei Attraktion muss ich erstmal schlucken. Aber gar nicht so dumm. Ein Attraktor ist der Träger einer Attraktion, genauso wie ein Operator der Träger einer Operation ist.

Graber Genau diese Assoziation hat mich auf die Bezeichnungen gebracht.

Weiser Typisch Naturwissenschaftler, Wortverwendung mit beliebiger Sinnentfremdung. Ich habe eine andere Idee. Die Beziehung zwischen Attraktorstruktur und Attraktoranregung besteht doch darin, dass die Anregung in die Struktur hineingezogen wird. Die Struktur ist das Anziehende, die Anregung das Angezogene. Wenn ich den gesuchten Bezeichnungen die entsprechenden lateinischen Wortformen zugrunde lege, ergeben sich die Wörter Attrahent und Attraktum.

Graber Glänzender Vorschlag. Nur würde ich das Attraktum noch zu Attrakt verkürzen und schlage folgende Vereinbarung vor: Ein dynamisch stabiler Anregungszustand in einem neuronalen Netz wird Attrakt genannt. Der Netzbereich, in dem ein solcher Zustand möglich ist, wird Attrahent genannt. Das Wort Attraktor sollte in dem oben angegebenen Sinne für die Chaostheorie reserviert bleiben.


Teil 2: Wie handeln wir?
Disput über menschliches Verhalten und seine neuronalen Grundlagen.

BuchTitel

Bibliographische Angaben

Jungclaussen, Hardwin: Gespräche zu Dritt. Teil II: Wie handeln wir? Disput über menschliches Verhalten und seine neuronalen Grundlagen.
Berlin: trafo Verlagsgruppe Dr. Wolfgang Weist, 2011, 364 Seiten
ISBN 978-3-89626-998-0, 29,80 EUR
Titel-Infos: http://www.trafoberlin.de/978-3-89626-998-0.html

Inhalt

Vorwort
1    Kant, Schopenhauer und Planck zur Willensfreiheit
2    Willensfreiheit aus neurophysiologischer Sicht
3    Das Ich und das Gewissen
4    Bewusstsein
5    Was ist Fortschritt? Was ist Informatik?
6    Motor, Grenzen und Potenzen des Fortschritts
7    Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und religiöse Überzeugungen
8    Die monotheistischen Religionen
9    Fernöstliches Denken
10  Die Rolle des Unbekannten in unserem Denken und Handeln
11  Erklärungen des Unerklärlichen
Resümee
Glossar
Literatur

Buchbesprechung auf dem Buchumschlag

Nachdem die Disputanten Weiser, Graber und Bauer im Band I über eine neuronale Erkenntnistheorie disputiert hatten, setzen sie in diesem zweiten Band der "Gespräche zu Dritt" ihren Meinungsaustausch über uns Menschen, über den Homo sapiens, fort.
Diesmal geht es um die Frage "Wie handeln wir?" Disputiert wird über den Handlungsfreiraum, in welchem ein Mensch sich für diese oder jene Handlung entscheiden kann, und der durch physikalische, juristische und ethische Gesetze eingeschränkt ist. Und es geht um den Prozess der Entscheidungsfindung sowohl auf psychologischer als auch auf neurophysiologischer Ebene, um Willensfreiheit, Gewissen, Selbstverantwortlichkeit und Bewusstsein.
An ein Gespräch über den wissenschaftlich-technischen Fortschritt schließt sich eine Debatte über die Beziehungen zwischen Naturwissenschaften und Religion an. Sie wird durchzogen von einem ständigen Aufeinanderprallen vor allem der Ansichten des Materialisten Bauer und der Überzeugungen des Christen Weiser. Erst gegen Ende der Gespräche werden die beiden Kontrahenten einander etwas näher kommen...
Die Gespräche des ersten und des zweiten Bandes dienen der Vorbereitung der Gespräche im dritten Buch, in dem die drei Protagonisten ihre Meinung über die Frage "Wie leben wir zusammen?" austauschen und Wege aus den zahlreichen Dilemmata finden wollen, in welchen sich die Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts befindet.

Aus dem Vorwort zu Teil II

In diesem Buch setzten die drei Gesprächspartner Weiser, Graber und Bauer ihre Gespräche fort, die sie in ihrer ersten Gesprächsrunde begonnen hatten. Im Einführungsgespräch hat sich Weiser als Geisteswissenschaftler mit dem Spezialgebiet Geschichte der Philosophie vorgestellt, Bauer als gelernter Mathematiker, der mit Philosophie wenig im Sinn hat und der seit mehreren Jahren auf dem Gebiet der Informatik, speziell der künstlichen Intelligenz tätig ist. Graber fühlt sich als Bindeglied zwischen Weiser und Bauer. Er hat sich als Physiker mit Neigungen zur Philosophie und zur Biologie vorgestellt.

In der ersten Gesprächsrunde ging es um die Frage "Wie erkennen wir die Welt?". Die Frage wurde im Resümee zur ersten Runde folgendermaßen beantwortet: Wir erkennen die Welt, indem unser Bewusstsein stabile Anregungen in der grauen Substanz unseres Gehirns, die sich infolge externer Reize aus der Welt herausgebildet haben, als Aussagen über die Welt interpretiert. Die Antwort ergab sich aus der neuronalen Erkenntnistheorie, die im Verlaufe der Gespräche entwickelt worden war. In dieser zweiten Runde geht es um die Frage "Wie handeln wir?" Es wird über menschliches Verhalten und seine neuronalen Grundlagen disputiert. Im Resümee zur zweiten Runde wird die gestellte Frage folgendermaßen beantwortet: Wir handeln nach den Befehlen unseres Animalhirns, des Sitzes von Instinkten, Affekten und Emotionen. Etwas ausführlicher lautet die Antwort: Wir handeln, indem das Animalhirn unter der Wirkung sensorischer Eingänge und gegebenenfalls unter der Wirkung des Rationalhirns, des Sitzes der Ratio, des Verstandes, eine Handlungsentscheidung trifft und die entsprechenden Impulse an den Motorcortex sendet, der dann die Muskelbewegungen auslöst, aus denen sich unser Handeln, unser Verhalten und Sprechen zusammensetzt.

Die zweite Gesprächsrunde beginnt mit Gesprächen über die Willensfreiheit, über das Gewissen und über das Bewusstsein. Es folgen Gespräche über den Fortschritt und über den Einfluss naturwissenschaftlicher und religiöser Überzeugungen auf das Handeln eines Menschen, auf sein Tun und Sagen. Daran schließt sich ein historischer Überblick über die Weltreligionen und eine Debatte über das Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Religion an, in deren Verlaufe die Ansichten des Materialisten Bauer und die des Christen Weiser ständig aufeinanderprallen.

Alle bisherigen Gespräche dienten der Vorbereitung auf das eigentliche Problem, auf die Beurteilung der gegenwärtigen Situation der Menschheit. Die drei Gesprächspartner wollen nach Antworten auf die Fragen suchen, wie wir Menschen in die aktuelle kritische Situation hineingeraten sind, und wie wir hinausfinden können. Bauer steht der letzten Frage von vornherein skeptisch gegenüber, weil die Evolution, speziell die kulturelle Evolution, keine Ziele hat und sich nicht nach rationalen Prinzipien vollzieht.

Leseproben aus Teil II

Seiten 9-13

Graber Ich begrüße euch zur zweiten Gesprächsrunde. Um ein verlegenes Anfangsschweigen gar nicht erst aufkommen zu lassen, bitte ich Weiser seines Amtes zu walten. Bauer stimmt sicherlich zu, dass Weiser in unserer ersten Runde ein guter Anweiser war und dass er es auch in der zweiten Runde bleiben soll, vorausgesetzt, er selbst ist einverstanden.

Weiser Warum nicht? Es ist ein einfaches Amt, den Befehlshaber zu spielen und ich weise ganz einfach an, dass jeder darüber berichten soll, womit er sich während der Sommerpause beschäftigt hat und zu welchen Themen er eventuell referieren könnte. Jeder hatte sich ja verpflichtet, ein Referat vorzubereiten. Ich meine, dass Graber beginnen sollte. Als Initiator der Gespräche wollte er die ursprüngliche Themenliste aus unserem ersten Gespräch noch einmal daraufhin ansehen, ob wir bei ihr bleiben können oder ob er weitere Themen sieht, über die zu disputieren wäre. Außerdem erwarten Bauer und ich eine Auffrischung der Gedanken und Einsichten unserer früheren Gespräche. Wie ich sehe, hat Bauer die Apparatur zum Mitschneiden unserer Gespräche wieder mitgebracht.

Bauer Auch der Mitschnitt der vergangenen Runde ist hier und steht bei der Auffrischung zur Verfügung.

Graber Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir bei der alten Themenliste bleiben sollten. Ich rufe noch einmal die Themen und die Reihenfolge ihrer Behandlung in Erinnerung, auf die wir uns damals geeinigt hatten: 1. Neuronale Erkenntnistheorie, 2. Wissenschaft und Religion, 3. Wirtschaft und Politik. Nun erwartet Weiser von mir eine Gedankenauffrischung. Ich habe etwas vorbereitet und beginne gleich damit, dass ich Weisers Antwort auf die Frage "Wie erkennen wir die Welt?" vorlese. Dieser Frage galt unsere erste Gesprächsrunde. Die Antwort lautet: "Wir erkennen die Welt, indem unser Bewusstsein stabile Anregungen in der grauen Substanz unseres Gehirns, die sich infolge externer Reize aus der Welt herausgebildet haben, als Aussagen über die Welt interpretiert." Dies war die Quintessenz der Neuronalen Erkenntnistheorie, über die wir disputiert hatten. Wichtig ist zu bemerken, dass die Rolle des Bewusstseins auf die Rolle eines Interpretierers zurückgedrängt ist, der die interne Repräsentation der Welt, das innere Modell der Welt "ausdeutet", d.h. seine Bedeutung bewusst macht, der aber an der Herausbildung des inneren Modells keinen Anteil hat. Unsere Arbeitshypothese lautete: Die Fähigkeit des Menschen, die Welt zu erkennen und sich ein inneres Modell der Welt aufzubauen, lässt sich allein aus der Struktur und Funktion des Gehirns ohne Inanspruchnahme des Bewusstseins erklären. Bauer hatte sie die Hypothese der bewusstseinsfreien Erkenntnisgewinnung genannt und dazu die wichtige Bemerkung gemacht, dass dabei unter Erkenntnisgewinnung die Gewinnung intern repräsentierter, d.h. neuronal codierter Erkenntnisse zu verstehen ist. Für die Gewinnung ist das Bewusstsein nicht erforderlich, sondern nur für das Vergegenwärtigen, für das Bewusstwerden des Erkannten. Die Frage, worin das Bewusstwerden konkret besteht, haben wir bisher nicht gestellt. Während des gemeinsamen Nachdenkens sind wir auf keine Grenze der Brauchbarkeit der Arbeitshypothese gestoßen. Im Gegensatz zu Weiser zogen Bauer und ich daraus den Schluss, dass die Arbeitshypothese zutrifft.

Bauer Ich stelle fest, dass sich die Annahme der Nichtbeteiligung des Bewusstseins am Erkennen auf das Handeln übertragen lässt. Dann lautet die neue Arbeitshypothese: Die Fähigkeit des Menschen zu handeln, lässt sich aus der Struktur und Funktion des Gehirns ohne Inanspruchnahme des Bewusstseins erklären.

Weiser Bitte keine wilden Sprünge! Wir sind noch bei der Gedächtnisauffrischung.

Graber Ich fahre also mit der Wiederholung fort und erinnere an vier Hypothesen. Die neuromentale Korrelationshypothese nimmt an, dass mentalen Zuständen und Prozessen neuronale Zustände und Prozesse entsprechen. Sie gilt heute als experimentell nachgewiesen. Die Attrakthypothese nimmt an, dass das neuronale Korrelat eines Bewusstseininhalts ein Attrakt ist. Als Attrakte hatten wir dynamisch stabile neuronale Anregungszustände bezeichnet. Sie werden in der Literatur häufig Neuronenkoalitionen genannt. Die Attrahentenhypothese nimmt an, dass das neuronale Korrelat eines Gedächtnisinhaltes ein Attrahent ist. Als Attrahent hatten wir einen neuronalen Netzbereich bezeichnet, in dem ein Attrakt angeregt werden kann. Die Konfluenzhypothese nimmt an, dass zwei Attrakte, die miteinander wechselwirken, sich einander annähern und evtl. zu einem einzigen Attrakt zusammenfließen, konfluieren, wie wir es genannt haben. Auf dieser Grundlage haben wir neuronale Mechanismen des Assoziierens und des logischen Denkens ansatzweise entwickelt. Das war wohl das Wichtigste.

Weiser Vielen Dank. In diesen vier Hypothesen sehe ich den Kern unserer "hypothetischen" Neuronalen Erkenntnistheorie. Nun stehen wir wieder einigermaßen im Stoff. Ich möchte aber noch eine Bemerkung zum Ichbewusstsein hinzufügen, die ich selbst damals gemacht hatte. Ich meinte, dass sich im Verlaufe der ersten Lebensjahre ein Ich-Nichtich-Attrahent entwickelt, der das Wissen vom unüberbrückbaren Gegenübergestelltsein von Ich und Nichtich codiert, und um den sich im Laufe des ganzen Lebens eine Hülle von Attrahenten legt, die alle Spuren vorangegangener Erlebnisse enthält. Ihr mentales Korrelat ist das autobiografische Gedächtnis. Graber ergänzte, dass das Ich-Nichtich-Attrakt, also der Anregungszustand des Ich-Nichtich-Attrahenten eines Menschen, offenbar immer aktiviert ist, wenn der Betreffende "bei Bewusstsein" ist, wenn er also denkt und fühlt. Durch die Aktivierung des Ich-Nichtich-Attrahenten werden diejengen Attrahenten sensibilisiert, die den Inhalt des autobiografischen Gedächtnisses codieren. Einer oder mehrere der Attrahenten werden durch das momentane Erleben, Wahrnehmen, Denken und Fühlen infolge Assoziation aktiviert und treten ins Bewusstsein. Sie sind der aktuelle Inhalt des Ichbewusstseins.

Bauer Ich wundere mich, dass Graber keine passende Hypothese formuliert hat. Außerdem meine ich, dass die Bezeichnung Ichattrahent bzw. Ichattrakt ausreichend ist, denn das Bewusstsein vom Ich, vom Subjekt, setzt das Bewusstsein von Nichtich, vom Objekt, voraus.

Graber Da hast du Recht, und die Definition kann ich ja noch nachholen. In der vollentwickelten grauen Substanz eines jeden Menschen existiert ein Ichattrahent, der das Wissen vom unüberbrückbaren Gegenübergestelltsein von Ich und Nichtich codiert. Dieser Attrahent ist immer aktiv, d.h. das Ichattrakt ist immer aktiviert, wenn der betreffende Mensch bei Bewusstsein ist. Für diese Hypothese schlage ich die Bezeichnung Ichattrakt-Hypothese vor.

Bauer Bewusstsein ist also nichts anderes als das Aktivsein des Ichattrahenten.

Graber Dem würde ich zustimmen, wenn "Bewusstsein" durch "Beibewusstseinsein" ersetzt wird.

Bauer Schönes Wortgebilde – Beibewusstseinsein. Sein Sinn ist klar, aber was Bewusstsein ist, wird durch dieses Unwort nicht klarer. Ich halte sowohl Weisers Gedanken, das Bewusstsein als Interpretierer aufzufassen, als auch Grabers Ichattrakt-Hypothese für eine brauchbare Basis, auf der wir über das Bewusstseinsproblem disputieren sollten.

Weiser Aber nicht jetzt. Das wäre wieder so ein "Bauernsprung". Ich wiederhole meine Anweisung, dass jeder mitteilen soll, womit er sich in der Zwischenzeit beschäftigt hat und worüber er ein Referat vorbereitet hat. Ich will gleich beginnen. Ich hatte ja früher bereits angekündigt, dass ich gerne über Kants Kritik der praktischen Vernunft berichten würde. Außerdem hatte ich angekündigt, über Schopenhauers Arbeit "Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde" zu berichten. Das war mir Anlass, mich noch einmal gründlicher mit Schopenhauer zu beschäftigen, vor allem mit dem, was er über die Willensfreiheit schreibt. So ist ein Referat über die Ansichten Kants und Schopenhauers zur Willensfreiheit entstanden. Außerdem habe ich mir bereits einige Gedanken zum Thema Religion gemacht, genauer zur Geschichte der monotheistischen Religionen; und ich habe mich mit fernöstlichem Denkern beschäftigt, mit Buddha, Laotse und Konfuzius.

Graber Da haben wir ja Material für den ganzen Winter. Ich bin mehr im Fahrwasser der bisherigen Gespräche geblieben und habe mich mit dem Problem des Bewusstseins beschäftigt und dazu u. a. zwei Bücher von Antonio Damasio gelesen. Über Das Buch "Bewusstsein - ein neurobiologisches Rätsel" von Christof Koch haben wir früher bereits ausführlich gesprochen. Ich habe aber auch zum Thema Willensfreiheit einiges gelesen, eine Reihe von Vorträgen, die Max Planck in den 20er und 30er Jahren gehalten hat, sowie das Buch "Neurophilosophie der Willensfreiheit" von Henrik Walter. Walter unterzieht die verschiedensten Ansichten und Theorien betreffs der Willensfreiheit einer kritischen Analyse unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Hirnforschung. Außerdem habe ich die Artikel über die Willensfreiheit durchgesehen, die in den Jahren 2003 - 2004 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen und von Christian Geyer in dem Buch "Hirnforschung und Willensfreiheit" zusammengefasst worden sind.

Weiser Wir haben uns also beide mit der Willensfreiheit beschäftigt. Das trifft sich gut. Und Bauer?

Bauer Ich habe weder über die Willensfreiheit noch über Religion nachgedacht, sondern mich mit Problemen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und der Wirtschaft beschäftigt. Wenn wir abstimmen, womit wir anfangen sollten, dann seid ihr in der Mehrheit, und das erste Thema unserer Gespräche wäre die Willensfreiheit. Das würde natürlich genau in die derzeitige öffentliche Diskussion passen, die von den Hirnforschern losgetreten worden ist.

Weiser ...in Gang gesetzt worden ist! - das klingt doch netter. Wir haben also allerhand Material zu bearbeiten, aber in welcher Reihenfolge? Wir sollten vielleicht historisch vorangehen: Kant – Schopenhauer – Planck - Hirnforschung. Dann würde ich beginnen und Graber würde sich anschließen.

Graber Ich mache einen anderen Vorschlag. Bevor Weiser beginnt, das Problem der Willensfreiheit aus philosophischer Sicht zu behandeln, möchte ich einige Gedanken darüber vortragen, aus welchem Grunde das Thema Willensfreiheit so brisant ist.

Weiser Gut, ich bin auf deine Gedanken gespannt und denke, dass sie auch Bauer interessieren werden.

Bauer Mir ist ziemlich klar, was jetzt kommt, die übliche Determinismusdebatte.

Weiser Ich erwarte von Graber etwas mehr und erteile ihm das Wort.

Graber Ich werde Bauers Erwartung erfüllen und mit einem Zitat von Georg Christoph Lichtenberg beginnen. Vor über 200 Jahren schrieb er: "Ein Meisterstück der Schöpfung ist der Mensch auch schon deswegen, dass er bei allem Determinismus glaubt, er agiere als freies Wesen."

Seiten 48-50

Graber ... Wie ist es möglich, dass ein Mensch sich subjektiv als Urheber seiner Handlung fühlt, obwohl er es objektiv gar nicht sein kann. Wäre er es, müsste er mit seinem Handeln eine neue Kausalkette initiieren. Das aber ist unmöglich. Niemand kann eine neue Kausalkette per Willensentscheidung initiieren, d.h. eine neue Anfangsursache in die Welt setzen. Das widerspräche dem Kausalitätsprinzip.

Bauer Genau das ist das Problem. Nach dem Kausalitätsprinzip müsste die Anfangsursache in der physischen Welt liegen, was offenbar nicht der Fall ist. Im physikalischen Weltbild gibt es keine Anfangsursachen. Wenn bei einer Handlungsentscheidung und Handlungsausführung alles kausal zugeht, muss die neue Kausalkette, die mit der Handlungsausführung beginnt, kausal an die Attraktkette des Entscheidungsprozesses angekettet sein. Wie aber kann sich dann der Handelnde als Urheber der Handlung fühlen, wie kann sich das Ich in die lückenlose Kausalkette eingeschaltet fühlen?

Graber Eine sehr plausible Erklärung habe ich bei Holk Cruse gefunden: In seinem Aufsatz "Ich bin mein Gehirn. Die neuronale Konstruktion der Freiheit" schreibt er: "An der Entscheidungsfindung ist eine größere Anzahl sogenannter "neuronaler Attraktoren" beteiligt, also dynamischer Nervennetze, die auch nach Störungen wieder einen stabilen Zustand einnehmen können – wobei nur die Inhalte einiger dieser Attraktoren erlebt werden. Wo aber nicht alle Aspekte bewusst werden, scheint eine Entscheidung plötzlich aufzutauchen. Sie kommt unerwartet, woraus sich eine Erklärungslücke ergibt."

Weiser Das Attrakt ist also gar nicht deine Erfindung?

Graber Nur die Unterscheidung zwischen Anregung und Struktur eines Attraktors ist meine Idee, und die Attrakt- und Attrahentenhypothesen sind meine Erfindungen. Auch nach unseren Vorstellungen vom neuronalen Korrelat des mentalen Denkprozesses ist an der Entscheidungsfindung "eine größere Anzahl sogenannter ‚neuronaler Attraktoren’ beteiligt", nach unserer Theorie eine Kette von Attrakten.

Weiser Ich will dir deinen Anteil an der Attraktidee gar nicht absprechen. Aber Cruses Argumentation finde ich sehr einleuchtend. Wenn der Entscheidungsprozess nur abschnittsweise ins Bewusstsein tritt, ist der bewusste Denkprozess durch unbewusste Abschnitte unterbrochen, sodass Denklücken entstehen. Nach einer Lücke beginnt das bewusste Denken mit einem neuen Gedanken, der "wie aus heiterem Himmel" ins Bewusstsein gefallen zu sein scheint. Dieses Gefühl ist charakteristisch für Intuitionen, aber eben auch für "freie" Entscheidungen. Das Ende des Entscheidungsprozesses kann plötzlich und unerwartet eintreten. Der Weg dorthin ist aus der Innensicht nicht nachzuvollziehen. Die Entscheidung "folgt aus nichts", sie ist "frei".

Bauer Das Erlebnis einer Intuition und das Erlebnis einer Entscheidung haben offenbar die gleiche Ursache, nämlich das Bewusstwerden des Ergebnisses bzw. eines Zwischenergebnisses eines unbewussten neuronalen Prozesses. Ein Mensch erlebt eine intuitive Idee aus der Innensicht als Beginn eines neuen gedanklichen Prozesses. Analog erlebt er eine Entscheidung als Beginn eines neuen kausalen Prozesses. In beiden Fällen liegt dem Erlebnis eines Ereignisses, das nicht kausal bedingt zu sein scheint, in Wirklichkeit ein kausal lückenloser neuronaler Prozess zugrunde.

Graber Cruse geht noch einen Schritt weiter und gibt auch dafür eine Erklärung, wie dieses Gefühl zustande kommt. Er schreibt: "Nun gibt es viele Beispiele dafür, wie Gehirne Erklärungslücken durch die Konstruktion plausibler Erfindungen füllen. Beispiele hierfür sind optische und kognitive Illusionen. Die Annahme liegt deshalb nahe, dass die hier beschriebene Erklärungslücke unser Gehirn veranlasst, an dieser Stelle das Konstrukt eines freien Willens einzuführen."


Teil III. Wie leben wir zusammen?
Disput über Schritte in die Zukunft.

BuchTitel

Bibliographische Angaben

Jungclaussen, Hardwin: Gespräche zu Dritt. Teil III: Wie leben wir zusammen?
Disput über Schritte in die Zukunft.

Berlin: trafo Verlagsgruppe Dr. Wolfgang Weist, 2013, 359 Seiten
ISBN 978-3-86464-003-2, 29,80 EUR
Titel-Infos: http://www.trafoberlin.de/978-3-86464-003-2.html

Inhalt

Vorwort
1    Hat die Evolution einen gemeinschaftsfähigen Menschen hervorgebracht?
2    Was lehrt uns die Geschichte? Teil I Von Konfuzius bis Bismarck
3    Was lehrt uns die Geschichte? Teil II Von Bismarck bis heute
4    26 Lehren der Geschichte
5    Geld und Wirtschaftskreislauf
6    Konjunkturzyklus und Wirtschaftskrisen
7    Kommt die globale Dienstleistungsgesellschaft?
8    Welche Auswirkungen hat das Internet auf die Gesellschaft?
9    Wie erreichen und bewahren lebendige Systeme Stabilität?
10  Aufträge an die Politik
11  Resümee und Schlusswort
Glossar
Literatur

Buchbesprechung auf dem Buchumschlag

Hat die Menschheit Chancen, das 21. Jahrhundert zu überleben? Was muss sie tun, damit sie überlebt? Mit diesen Fragen haben die fiktiven Gesprächspartner Graber, Weiser und Bauer ihre "Gespräche zu Dritt", ihren "anthropologischen Disput" begonnen. Sie versuchen, diese Fragen auf der Grundlage ihres Wissens über die Prozesse im Gehirn zu beantworten, die das Verhalten des Menschen bestimmen. Alle Gespräche dienen diesem Ziel. Im ersten Teil der Trilogie ging es um die Frage "Wie erkennen wir die Welt?", im zweiten um die Frage "Wie handeln wir?" und in diesem um die Frage "Wie leben wir zusammen?" und zwar aus biologischer Sicht, aus psychologischer Sicht, aus historischer Sicht, aus aktueller Sicht und aus zukünftiger Sicht. Die aktuelle Sicht betrifft in erster Linie die Wirtschaft und die Methoden, sich Geld und Reichtum auf Kosten anderer anzueignen.

Die Gespräche enden mit der positiven Antwort: Ja, die Menschheit kann überleben, wenn es den Menschen gelingt, das rücksichtslose Ich und das aggressive Wir, das sich gegen andere soziale Gruppen richtet, zu überwinden. Dazu müssen die zugrunde liegenden Hirnstrukturen so aus- bzw. umgebildet werden, dass sie zu solidarischem und tolerantem Verhalten führen. Welche Schritte müssen getan werden, um das zu erreichen? Darum geht es in diesem Buch.

Aus dem Vorwort zu Teil III

Die drei Disputanten, der Philosoph Weiser, der Physiker Graber und der Mathematiker und Informatiker Bauer, haben sich vorgenommen, in dieser Gesprächsrunde die Frage zu beantworten, mit der sie ihre Gespräche begonnen haben. Sie hatten nach den dringendsten Schritten gefragt, die getan werden müssen, um die Gefahr des Unterganges, die gegenwärtig über der Menschheit schwebt, abzuwenden.

Hinter allen Disputen steht als treibende Kraft die unausgesprochene Einsicht, die Michio Kaku ausgesprochen hat: In diesem Jahrhundert wird sich das Schicksal der Menschheit entscheiden.

Die Disputanten suchen nach Wegen, auf denen sich die Menschheit im Sinne der Forderung von Herbert Hörz aus einer Katastrophengemeinschaft zu einer Interessengemeinschaft formieren kann, und sie suchen nach Wegen, auf denen die Forderungen des 15. Artikels der "Bill of Rights" vom 12.Juni 1776 zu verwirklichen sind.

Zu diesem Zweck entwickeln die Disputanten eine neue Anthropologie, um zu erkennen, wer der Mensch, der Anthropos, der Homo sapiens, der auf dem Spiele steht, eigentlich ist. Um ihn zu erkennen, folgen die Disputanten dem Rat von Edgar Morin; sie verlassen die alltäglichen Denkwege. Sie stellen sich die drei Fragen Kants aus naturwissenschaftlicher Sicht und beantworten sie auch naturwissenschaftlich, genauer auf der Grundlage der Erkenntnisse der Neurophysiologie und der Hirnforschung. In der ersten Gesprächsrunde beantworten sie die Frage "Wie erkennen wir die Welt?", in der zweiten die Frage "Wie handeln wir?" und in der vorliegenden dritten Runde die Frage 7"Wie leben wir zusammen?" oder - in Angleichung an Kants dritte Frage "Was darf ich hoffen?" - die Frage "Unter welchen Bedingungen dürfen wir auf ein Überleben des Homo sapiens hoffen?" Die Antworten werden im Resümee am Ende dieser Gesprächsrunde zusammengefasst. Die Antwort auf die dritte Frage, um die es von Anfang an im Grunde ging, lautet: Jeder muss seine Selbstsucht überwinden, und jeder muss alle Feindseligkeiten gegen andere Menschen und gegen andere soziale Gruppen überwinden. Es darf nichts gesagt oder getan werden, was Feindseligkeiten auslösen oder vertiefen könnte.

Dieses uralte Gebot, das jede Zeit in ihrer eigenen Sprache ausgedrückt hat, gilt auch heute. Doch diesmal muss es bei Strafe des Untergangs befolgt werden.

Leseproben aus Teil III

Seiten 11 – 13

Weiser Ich begrüße euch zur dritten Gesprächsrunde. Der übliche Bericht über unsere Sommerlektüren ist meines Erachtens überflüssig, weil alle wissen, was die anderen gelesen und worauf sie sich vorbereitet haben. Jeder hat über die Frage "Was tun?" nachgedacht und sich die nächsten Schritte überlegt, die getan werden müssen, um die kritische Situation zu überwinden, in der sich die Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts befindet. Graber und ich haben jeder ein historisches Referat vorbereitet und Bauer hat zwei Referate über die Wirtschaft vorbereitet. Außerdem haben Bauer und ich brav die Bücher von Hawking und Unzicker gelesen. Mir hat das einige Mühe gemacht. Beim Lesen wurde mir immer klarer, dass: "Der Große Entwurf" von Hawking uns bei der Beantwortung der Frage "Was tun?" kaum wird helfen können. Nachdem ich mit beiden Büchern fertig war, habe ich Graber meine Zweifel mitgeteilt.

Graber Das war gut. Ich habe mit Bauer darüber gesprochen, und wir sind überein gekommen, heute vorzuschlagen, das Gespräch über Hawkings Buch zu streichen. Darum habe ich mich gleich an das Thema gemacht, das Bauer schon vor der Sommerpause für mich vorgeschlagen hatte: "Zusammenleben aus neuronaler Sicht". Ich könnte es heute vortragen. Mein Hawking-Referat hätte ich dann freilich umsonst vorbereitet. Einige Gedanken und Zitate würde ich allerdings doch gerne darlegen. Ich könnte sie bei Gelegenheit einschieben. Übrigens habe auch ich eine Kürzung vorgenommen, allerdings ohne euch zu fragen. Ich habe keine Zusammenfassung der ersten beiden Gesprächsrunden vorbereitet, weil ich der Ansicht bin, dass sie in das Schlussresümee aller drei Gesprächsrunden gehört. Beim Nachdenken über Bauers Vorschlag hat sich das von ihm vorgeschlagene Thema Schritt für Schritt erweitert, bis ich schließlich zu folgender Formulierung gekommen bin: "Hat die Evolution einen gemeinschaftsfähigen Homo sapiens hervorgebracht?" Über diese Frage will ich heute mit euch zusammen nachdenken.

Bauer Wieso soll ich darüber nachdenken? Die Antwort ist klar: Nein! Für ein friedliches Zusammenleben ist der Homo sapiens jedenfalls nicht geschaffen. Die Evolution hat einen Homo sapiens hervorgebracht, der nur sehr bedingt mit anderen friedlich zusammenzuleben kann. Die Bedingung dafür ist uns aus früheren Gesprächen bekannt: Die Ich- und Wir-Strukturen in den Gehirnen der Menschen müssen das Zusammenleben zulassen. Das tun sie offensichtlich nicht, wie die Menschheitsgeschichte zeigt.

Graber Das ist die Ansicht eines Pessimisten, der am Menschen kein gutes Haar lässt. Ich bin da optimistischer. Weiser und ich werden in unseren historischen Referaten zeigen, dass die Menschen zwar dazu neigen, sich die Köpfe einzuschlagen, dass sie es aber immer wieder geschafft haben, sich zu einigen, Frieden zu stiften und Frieden zu halten, zumindest für eine gewisse Zeit.

Bauer Nach Hiroshima müssen sie für immer Frieden halten. Ich bin gespannt, ob es euch gelingt, mich zum Optimisten zu machen.

Graber Jetzt geht es erst einmal um die Frage, ob die Struktur des menschlichen Gehirns ein friedliches Zusammenleben zulässt oder nicht. Bauer behauptet, dass die von ihm genannte Bedingung nicht erfüllt ist, die Erfahrung zeige das. Mit der Bedingung bin ich einverstanden, mit ihrer prinzipiellen Unerfüllbarkeit jedoch nicht. Darum präzisiere ich die Frage, unter die ich mein Referat gestellt habe, zu der Frage: Welches sind die Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen?

Bauer Ich habe eine bessere Fragestellung: Dürfen wir hoffen, dass der Homo sapiens überlebt?

Graber Deine Frage erinnert mich an Kants Frage "Was darf ich hoffen?". Edgar Morin würde deine Frage wohl mit "Eher nicht" beantworten. Ich bleibe bei meiner Fragestellung. Um sie zu beantworten, gehe ich ganz im Sinne von Bauers ursprünglichem Vorschlag von den vier neuronalen Strukturen aus, die nach unserer gemeinsamen Ansicht in der grauen Substanz jedes Menschen existieren und sein Verhalten wesentlich bestimmen. Ich versuche also, die Frage nicht aufgrund historischer Erfahrungen zu beantworten, sondern aufgrund biologischer Erkenntnisse. Ich erinnere an die Bezeichnungen und Definitionen von vier neuronalen Strukturen:

- Ich-Struktur - neuronaler Träger des Ich-Bewusstseins und des Selbsterhaltungstriebes,

- Wir-Struktur - neuronaler Träger des Wir-Bewusstseins und des Gruppenerhaltungstriebes,

- Gewissensstruktur - neuronaler Träger des Gewissens,

- Logikstruktur - neuronaler Träger des logischen Denkens.

Wir gehen davon aus, dass jede diese Strukturen nicht zentralisiert, sondern über das Gehirn verteilt ist..

Weiser Ich ergänze, dass wir mit "Wir-Bewusstsein" das Wissen eines Menschen bezeichnet haben, Teil eines "Wir", Teil einer sozialen Gruppe zu sein.

Seiten 332-334

Weiser Er (Graber) hat uns zu diesen Gesprächen eingeladen, er hat sie mit seinem Eröffnungswort begonnen, er möge sie nun mit seinem Schusswort beenden.

Graber Du hattest dir gewünscht, dass ich die Gedanken und Einsichten unserer Gespräche zu einem geschlossenen Bild zusammenfüge. Das kann ich nicht. Aber ich werde sie in einen gemeinsamen Rahmen stellen. In Anlehnung an Kant nenne ich ihn den anthropologischen Rahmen. Die drei Fragen, über die Kant sein Leben lang nachgedacht hat, nämlich "Was kann ich wissen?", "Was soll ich tun?" und "Was darf ich hoffen?", nannte er anthropologische Fragen und fasste sie in der Frage zusammen "Was ist der Mensch?", was ist der "Anthropos"? Wir haben ganz ähnliche Fragen gestellt. Sie lauteten "Wie erkennen wir die Welt?" – "Wie handeln wir?" – "Wie leben wir zusammen?" Die dritte Frage scheint bei Kant keine Entsprechung zu haben. Doch im Laufe unseres Disputs ist aus unserer dritten Frage eine andere geworden. Wir mussten uns überzeugen, dass die Eigenschaften der Menschen wenig Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben machen. Das veranlasste Bauer, unsere dritte Frage weitaus schärfer zu formulieren und zwar: Dürfen wir auf ein Überleben des Homo sapiens hoffen? Diese Frage hat ihre Entsprechung in Kants Frage "Was darf ich hoffen?" Aber Kant hat seine Fragen in philosophischem Sinne gestellt und hat sie im Rahmen der Philosophie beantwortet. Wir haben unsere Fragen in naturwissenschaftlichem Sinne gestellt und haben versucht, sie im Rahmen der Naturwissenschaft zu beantworten. Unsere Dispute bewegten sich also durchweg in einem naturwissenschaftlich-anthropologischen Rahmen. Nachträglich stelle ich noch einmal die Frage, wie weit es überhaupt möglich ist, die Prozesse des Erkennens, des Handelns und des Zusammenlebens der Menschen naturwissenschaftlich zu verstehen.

Bauer Dahinter stehen die beiden Fragen: Wie weit kann die Wissenschaft von der physischen Natur, die "Physik", die Natur richtig und konsistent beschreiben und Beobachtungen vorhersagen; und wie weit kann die Wissenschaft vom Menschen, die "Anthropologie", den Menschen adäquat beschreiben und sein Verhalten vorhersagen? Aber ich sehe, der zweite Teil der Frage ist eigentlich überflüssig, denn der Mensch ist Teil der physischen Natur.

Weiser Es spricht der radikale Reduktionist.

Bauer Ach ja, ich will lieber nichts gesagt haben, sonst gibt’s wieder Ärger. Ich belasse es bei beiden Fragen.

Graber Sie kommen mir sehr zupass, denn ich beantworte meine Frage, indem ich im Grunde deine Fragen beantworte und zwei Grenzen angebe, die unser Verstehen nicht überschreiten kann, zumindest nicht beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft. Die eine Grenze liegt da, wo wir nicht mehr in der Lage sind, beobachtete Phänomene zu verstehen, obwohl sie sich mathematisch beschreiben und in das mathematische Weltbild integrieren lassen. Die zweite Grenze liegt da, wo wir nicht mehr in der Lage sind, beobachtete Phänomene mathematisch zu beschreiben und in das mathematische Weltbild zu integrieren.

Bauer Tatsächlich, es sind die Antworten auf meine beiden Fragen. Über die zuletzt genannte Grenze haben wir wiederholt disputiert. Sie liegt da, wo die beobachteten Phänomene zu komplex werden, um sie adäquat mathematisch beschreiben zu können. Das trifft für psychologische und für soziologische Phänomene zu. Das Verhalten eines Menschen beruht, wie wir wissen, auf hochkomplexen Wechselwirkungen zwischen den Neuronen seiner grauen Substanz. Das Verhalten einer Gruppe von Menschen beruht auf hochkomplexen Wechselwirkungen zwischen den Mitgliedern der Gruppe und damit auf dem Verhalten jedes einzelnen. Das System "soziale Gruppe" besitzt also eine zweischichtige Komplexität, die soziale Komplexität der oberen Schicht, der sozialen Gruppe, und die neuronale Komplexität der darunter liegenden Schicht, der grauen Substanz des einzelnen Individuums. Eine Integration sozialer Phänomene in das mathematische Weltmodell ist also völlig unmöglich und wird es auf absehbare Zeit auch bleiben.

Weiser Für mich war das mal wieder eine gute Wiederholung. Nun muss Graber noch die zuerst genannte Grenze unseres Verstehens erklären.

Bauer Ich kann mir schon denken, was Graber mit dieser Grenze meint: die Unmöglichkeit, die Quantenphysik zu verstehen.

Graber Stimmt, aber noch viel unmöglicher scheint es mir zu sein, die sogenannte M-Theorie zu verstehen, die theoretische Grundlage von Hawkings "Großem Entwurf". Die Quantenphysik ist nur eine der Grundlagen der M-Theorie.

Weiser Nun kommt Hawking doch noch an die Reihe.


Buch: Kausale Informatik

BuchTitel

Bibliographische Angaben

Deutscher Universitäts-Verlag
2001. XX, 625 Seiten. Mit 75 Abbildungen

ISBN: 3-8244-2143-7

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Auszüge:

Geleitwort   [ 310kB ]
Vorwort   [ 310kB ]
Inhaltsverzeichnis   [ 310kB ]
Einleitung   [ 330kB ]

Aufsätze und Vorträge

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